Die Wahrheitsschwestern
Tragödie in drei Akten von Giordano Bruno do Nascimento
Libretto: Amanda Lasker-Berlin
Uraufführung: 25.10.2019 Weimar

„Wahrheit ist das, was die meisten Menschen glauben.“
Giordano Bruno do Nascimentos dystopische Oper „Die Wahrheitsschwestern“ sucht nach den Quellen medialer Meinungsbildung und hinterfragt die Fake-News Thematik.
„Am Anfang ist das Wort und wir selbst sind das Wort und das Wort ist unser Wort“
In einer spätkapitalistischen Welt leben die drei Schwestern Etta, Meta und Verita abseits der Zivilisation. Aus ärmsten Verhältnissen stammend, verdienen sie sich ihren Lebensunterhalt mit dem Nähen von Wahrheitskleidung. In die Stoffe weben sie Wörter, Gedanken und Gefühle, aber vor allem Bilder. Bilder, die so real wirken, dass Menschen sie glauben.
Auf dem Höhepunkt ihrer Karriere erhalten sie einen Auftrag eines Konzerns „in einem Land, das weit von dem Land der Rebellen und Leichen und der Sterbenden entfernt ist“. Von nun an nähen sie Gewänder für eine Bewegung, die die Freiheit der Menschen einschränkt, die die Welt in ein tristes Grau wandelt. Zunächst läuft alles nach Plan, doch die Schwestern verlieren die Kontrolle über ihre Wahrheiten. Sie entfachen einen Krieg, die Welt steckt im Chaos und die Wirklichkeit eilt ihrer Arbeit voraus. Die Menschen glauben ihnen nicht mehr. Während Etta noch skrupellos versucht, die Kontrolle wieder zu erlangen, indem sie noch brutalere, noch extremere, noch verführerischere Kleidung produziert, sehnt Verita sich nach „einer Wirklichkeit, die weich ist. In der wir erst hören und dann sprechen.“ Als Verita anfängt, die Situation zu hinterfragen, kommt es zu einem fatalen Streit.

„Wahrheit ist Mode, oder nicht?“
Modellhafte und pessimistische Szenarien aus der nahen Zukunft sind fester Bestandteil im Œuvre do Nascimentos. Die Oper spielt mit dem Gedanken, dass Nachrichten und vermeintliche Wahrheiten wie Kleidungsstücke produziert, vermarktet, verkauft, angezogen und auch wieder abgelegt werden und ebenso in und aus der Mode sein können. Damit liest sich „Die Wahrheitsschwestern“ wie eine Allegorie auf unsere heutige Zeit. Eine Zeit, in der die Daten von Milliarden Menschen ein teures Gut sind, Meldungen in Sekundenschnelle um die Welt geschickt werden können und sich Meinungen und Nachrichten über wenige Berührungen eines Touch Screens mit dem World Wide Web teilen lassen. Das Filtern dieser Fülle an Nachrichten wird dabei meist Maschinen und Algorithmen überlassen. Immer wieder gehen „Fake News“ viral.
Der Begriff „Fake News“ geht mindestens auf das Jahr 1890 zurück, doch rückte er im Zusammenhang mit der Präsidentschaft Donald Trumps auch ins deutsche Sprachbewusstsein. 2017 wurde er sogar in die 27. Auflage des Rechtschreibdudens übernommen – im gleichen Jahr, in dem Trumps damalige Pressesprecherin Kellyanne Conway den Begriff „alternative facts“ („Alternative Fakten“) erfand, um Falschaussagen zu rechtfertigen. Nicht zuletzt erschien der Begriff „Fake News“ im Zusammenhang mit den Meldungen über das Coronavirus.
Wohin das gefährliche Spiel mit Wahrheiten führen kann, wird in „Die Wahrheitsschwestern“ musikalisch und lyrisch erörtert. Die drei Schwestern, die die Wahrheitskleidung nähen und damit zu Gunsten ihrer Kunden den Lauf der Dinge beeinflussen, sind dabei die metaphorischen Sündenböcke. Denn in unserer Realität gibt es weder die Schwestern noch Wahrheitskleidung. Die Frage danach, welchen Ursprung unsere Wahrheiten haben und was eigentlich „wahr“ ist, bleibt unbeantwortet. Die Regisseurin der Uraufführung, Eszter Johanna Barta, schrieb dazu: „Wenn die Menschen das nur erkennen und sich aus ihrer eigenen Unmündigkeit befreien würden.“
Das Motiv der drei Schwestern scheint nicht zufällig gewählt. Sie sind eine beliebte Konstellation in der Literatur, zum Beispiel in Tschechows Drei Schwestern. Man denke auch an die drei Hexen in Shakespeares Macbeth oder die Schicksalsschwestern der griechischen Mythologie. Zumeist repräsentieren die älteren Schwestern das Böse und die Jüngste das Gute, Reine, Vollkommene. Diese Aufteilung ist auch in „Die Wahrheitsschwestern“ zu finden. Etta (die Älteste) tötet Verita (die Jüngste), deren Name nicht zufällig „Wahrheit“ bedeutet. Daraufhin verliert Meta den Verstand. Die Schwestern können nur als Einheit existieren. „Und so blieben am Ende weder Verita, noch Etta, noch Meta. Denn die Liebe war das Vergängliche unter ihnen.“
„Der Zustand ist tot! Der Prozess lebt!“
Oper wird oft als verstaubte, schlecht gealterte oder spießige Kunstform verkannt. Mit „Die Wahrheitsschwestern“, seiner fünften Oper, beweist do Nascimento geschickt das Gegenteil. In ihr verbindet er Elemente der klassischen Orchestermusik mit Live-Elektronik, Eindrücken aus dem Metal und dem Tonsystem, das er selbst geschaffen hat.
Die Oper ist durchkomponiert und von einem weitestgehend dunklen Klangbild sowie starker Rhythmik geprägt. Essentiell dafür ist der Einsatz des Schlagwerks und der Bläser. Neben der üppigen Instrumentation und minimalistischen Strukturen sind besonders die extreme Dynamik, die rhythmische Komplexität mit häufigen Taktwechseln und die Verwendung moderner Spielweisen wie Multiphonics in Flöten und Klarinetten, charakteristisch.
Die vokale Besetzung ist nicht minder spannend. Die Partie der Etta ist mit einer Mezzosopranistin, die der Meta und Verita mit Koloratursopranistinnen besetzt. Hinzu kommt ein kleiner Chor, der in anspruchsvollem unisono die erzählende und kommentierende Rolle im Stück übernimmt.
In seinem kompositorischen Schaffen integriert Giordano Bruno do Nascimento seine Forschungsergebnisse zum Ausdruck von Helligkeit und Licht in kammermusikalischen Werken. Außerdem untersucht er die Unschärfe der Materie im Universum und ihr Wirken auf Tonalität und Klang.
Was dabei herauskommt, ist ein sowohl musikalisch als auch inhaltlich hochaktuelles Bühnenwerk, das es vermag, durch seine unbeschönigte Darstellung der allegorischen Welt und seine eindrückliche Klangsprache die Zuhörenden in seinen Bann zu schlagen sowie anregt, den eigenen Umgang mit medialen Nachrichten zu reflektieren.
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„Denn unser Wort malte jedes Bild und jedes Bild malte uns in es hinein“
Der Komponist Giordano Bruno do Nascimento (*1981 in Brasilien) studierte Operngesang und Komposition in Adria (Italien) und Weimar. Er erhielt zahlreiche Preise, Stipendien und Residenzen. Seit 2019 leitet er das Ensemble für Alte und Zeitgenössische Musik „Camerata Temporalis“. Die Uraufführung seiner sechsten Oper „Mutter“ (Libretto: Romina Nikolic) findet am 1. Oktober 2021 in Weimar statt. Sein bisheriges künstlerisches Schaffen umfasst etwa 200 Werke. https://giordano-bruno-do-nascimento.com/
Librettistin Amanda Lasker-Berlin (*1994 in Essen) studierte Freie Kunst an der Bauhaus-Universität in Weimar und Regie an der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg. Von drei Schwestern handelt auch ihr Debütroman Elijas Lied, der mit dem Debütpreis der lit.COLOGNE 2020 ausgezeichnet und für „Das Debüt 2020 – Bloggerpreis für Literatur“ nominiert wurde. Ihr zweiter Roman Iva atmet erschien am 26.3.2021 bei der Frankfurter Verlagsanstalt. https://www.fva.de/Amanda-Lasker-Berlin.html
Einen Ausschnitt aus der Vorstellung am 26.10.2019 unter dem Dirigat des Komponisten findet sich unter folgendem Link: https://youtu.be/ghtf3TZgJkA
Joëlle Lieser