„Man muss mit der vollen Geschwindigkeit eines Fahrrads leben“
über Sascha Sokolows Die Schule der Dummen
Als Rhizom bezeichnet man in der Botanik eine Art Wurzelgeflecht, das, zumeist unterirdisch gelegen, eine Pflanze mit Nährstoffen versorgt. In der Philosophie hingegen hat es der Begriff des Rhizoms als Denkfigur zu einiger Berühmtheit gebracht. Für die beiden Poststrukturalisten Gilles Deleuze und Felix Guattari dient das Rhizom, dieses knollenartige, wuchernde Gewächs, als Metapher für eine spezifische Art des Denkens, das versucht klassische Beschreibungsmuster in der Weltdeutung aufzubrechen, indem es scheinbar weit voneinander Entferntes, Inkohärentes und Unvereinbares miteinander in Beziehung setzt, ohne dabei so große Begriffe wie Wahrheit oder Ursprung in den Mund zu nehmen (allen Freizeitphilosophen sei dieses erhellende Video zum Begriff des Rhizoms nahegelegt).
Hätten die beiden berühmten Denker Die Schule der Dummen gekannt, sie wären entzückt gewesen von so viel rhizomatischen Wendungen und irrwitzigen Gedankengängen, die in hohem Tempo an so ziemlich jeder Romankonvention vorbeirauschen. Wer sich auf das von Sascha Sokolow in der Sowjetunion geschriebene und im amerikanischen Exil veröffentlichte Buch einlässt, erlebt eine sprachliche und erzählerische Revolution. Theorie hin oder her, die Geschichte eines schizophrenen Sonderschülers und seines Alltags in einer sowjetrussischen Sonderschule ist tieftraurig und urkomisch, wahnsinnig und vernünftig, furchtbar klug und schrecklich dumm!

„Dichterischer Unsinn“
Ohne Ankündigung springt der Text dabei nicht nur zwischen unterschiedlichen Themen hin und her, sondern auch zwischen verschiedenen Schauplätzen, zumeist einer Datschensiedlung, dem Schulgebäude, den Ufern eines Flusses oder einem Bahnhofsgelände. Es ist ein phantastisch anmutender Kosmos, der in einem berührenden Plauderton und mit besagtem Blick auf Randständiges entsteht:
„Das ist die fünfte Zone, eine Fahrkarte kostet 35 Kopeken, der Zug braucht eine Stunde und zwanzig Minuten, nördlicher Zweig, ein Zweig der Akazie oder, sagen wir, des Flieders, er blüht mit weißen Blüten, riecht nach Kreosot, nach dem Staub der Eisenbahnwagen, nach Zigarettenrauch, er schimmert am Bahndamm, abends kehrt er auf Zehenspitzen in den Garten zurück und horcht auf die Bewegung der elektrischen Vorortzüge…“
Da ist es nur konsequent, dass auch das Figurenpersonal der Schule der Dummen, darunter Postboten, grimmige Schuldirektoren und überarbeitete Beamtenväter, mal hier, mal dort auftauchen. Aber nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Gesetze haben hier keine Gültigkeit, was vom „Schüler Soundso“ mit einer entwaffnenden Naivität dargelegt wird:
„Warum ist es zum Beispiel üblich anzunehmen, dass nach dem ersten Januar der zweite folgt und nicht gleich der achtundzwanzigste. Ja, und können denn Tage überhaupt einander folgen, das ist so ein dichterischer Unsinn – die Reihenfolge der Tage. Es gibt keinerlei Reihenfolge, die Tage kommen, wenn es ihnen passt, manchmal auch ein paar auf einmal. Es kommt auch vor, dass ein Tag lange nicht kommt.“
Das Pantoffelsystem
Man darf dennoch nicht glauben, die Schule der Dummen sei ein harmloses Buch, nicht umsonst ist es im russischen Exil erschienen. Zu offensichtlich sind die Anspielungen auf Repression und Unterdrückung in der späten Sowjetunion, wenn beispielsweise von der Inhaftierung eines Wissenschaftlers berichtet wird.
Die Art und Weise wie in Sokolows Text Zeit, Ort und Sprache einer festen Ordnung entzogen wird, wie auch mal geschrien, geflucht und gesabbert wird, ruft Gegenspieler in Gestalt von Psychiatern auf den Plan, die versuchen das Denken und Handeln der Hauptfigur zu pathologisieren und bürokratisieren. [MM2] Sinnbildlich für den Modus der Unterdrückung und Zaunmentalität steht die Schule selbst mit ihrem grotesken Pantoffelsystem, das die Schüler dazu verpflichtet, die Schule nur mit Hausschuhen in eigens dafür angefertigten Beuteln zu betreten:
„[…] und auf jedem Beutel musste mit Wäschetinte der Name des Schülers, dem der Beutel gehörte, geschrieben sein. Man hatte zu schreiben, sagen wir: Schüler soundso, Klasse 5, und unbedingt darunter, doch mit größeren Buchstaben: Pantoffeln. Und noch tiefer, aber noch größer: Sonderschule.“
Einzig und allein der verstorbene Lehrer für Geographie, Saul Petrowitsch, der noch immer auf dem Fenstersims der Schultoilette hockt (man erinnere sich an die Skepsis des Schülers an der Zeit mit ihren Gesterns, Heutes und Morgens), bildet mit seinen Reden von Schmetterlingen und der Sinnlosigkeit des Studiums von Gebirgssystemen einen Gegenpart zur „Muster-Aktivisten-Sonderschule“. Für den namenlosen Protagonisten ist er Lehrer und Vaterersatz in einem. Seine Worte richten sich fast immer an den toten Saul. Voller Wut und Zärtlichkeit, mal fein und mal grob ergießt sich die Flut an Sätzen über die nackten Füße des Lehrers. Nicht selten wird dabei ohne Punkt und Komma geredet. Die Traurigkeit, die unter diesen Wortkaskaden verborgen liegt, stellt sich erst im Nachhinein ein, etwa wenn man urplötzlich in der Mitte eines Friedhofs aus dem bunten Schwall an Gedanken und Bildern entlassen wird. Verloren wirken der „dumme“ Schüler und sein Lehrer dann in einer Welt, die von Aktentaschen und beschrifteten Turnbeuteln dominiert wird und so auf eine subtile Weise tot und unmenschlich erscheint.
„Bazillen, Bazillen, Bazillen“
Man ist also durchaus geneigt, die Schule der Dummen als Reaktion auf einen Verlust, als Ausdruck einer psychischen Erkrankung und als Antwort auf ein repressives Schul- und Gesellschaftssystem zu lesen. Aber ich glaube, man täte der Schule der Dummen damit auch ein wenig Unrecht. Ich käme mir jedenfalls ein wenig wie der grimmige Schuldirektor mit seinen beschrifteten Turnbeuteln vor. Denn in erster Linie ist es für mich ein Buch über die schöpferische Kraft der Sprache und ihrer Erhabenheit gegenüber jeder vermeintlichen Realität und einem noch auszuhandelnden Sinn.
An einer der schönsten Stellen heißt es:
„An den Hausecken sind Fässer mit Löschwasser in die Erde gegraben, darin – bis zur Hälfte – ist rostiges Wasser, leben irgendwelche trägen Insekten. Nur ein Faß ist ganz leer, darin ist kein Wasser, sind keine Insekten, und in dir entsteht der glückliche Gedanke es mit deinem Schrei zu füllen. Lange stehst du davor, beugst dich über den dunklen zylindrischen Abgrund und gehst mit deinem selektiven Gedächtnis die Worte durch, die am besten in der Leere leerer Räume klingen. Es gibt nicht viele solcher Worte, aber es gibt sie.“
„Mit der vollen Geschwindigkeit eines Fahrrads leben“, empfiehlt der Lehrer Saul dem Schüler „Soundso“. Mit Mut ein Wort in die noch wortlose Welt schreien, denke ich fahrend und lesend. Darum könnte es gehen.

Leonard Merkes
Sascha Sokolow: Die Schule der Dummen
Aus dem Russischen von Wolfgang Kasack
Suhrkamp Verlag, 237 Seiten
ISBN: 978-3-518-22123-5