DAS LÄCHELN AM FUSSE DER LEITER
Oper von Antonio Bibalo nach Henry Miller
Manchmal findet man durch Zufall Juwelen: Neulich schlug ich einen Opernführer auf, um etwas zu Georges Bizets berühmter Oper „Carmen“ nachzulesen. Ein paar Seiten vor diesem Kapitel blieb mein Blick an einem anderen Artikel haften: „Das Lächeln am Fuße der Leiter“ von Antonio Bibalo. Noch nie gehört. Ähnlich ging es wohl in den frühen 1960er Jahren dem Opernkomponisten und damaligen Intendanten der Hamburgischen Staatsoper Rolf Liebermann. Auf dessen Schreibtisch lag die Partitur dieses Werks, die er zunächst aufgrund der hohen kompositorischen Virtuosität für ein Werk Luigi Dallapiccolas hielt. Die Komposition sprach ihn an und er – ohnehin als Liebhaber neuer Töne bekannt – begann seine Recherche nach dem Komponisten und dessen Schaffen. Was er fand, war ein Italiener in Norwegen mit slowakischen Wurzeln.

„Versuchte doch immer nur eines zu sein: Ich selbst.“
Antonio Gino Bibalo, geboren 1922 in Triest, erhielt schon in früher Kindheit Klavierunterricht und studierte später am Konservatorium seiner Heimatstadt Klavier und Komposition. Ziel seines Studiums war eine Karriere als Solopianist. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges musste er sein Studium unterbrechen. Er diente als Soldat, desertierte allerdings zwei Mal und kam als Kriegsgefangener in die USA. Nach dem Krieg schloss er sich einer französischen Fremdenlegion an, spielte als Pianist in Offiziersmessen, gab den Frauen der High Society Klavierunterricht und landete schließlich als Bar-Pianist auf einem Ozeandampfer, der ihn nach London brachte. Dort nahm er seine Arbeit als Komponist wieder auf und studierte von 1953-56 Komposition am Trinity College of Music bei Elisabeth Lutyens, der Vorstreiterin für Zwölftonmusik in Großbritannien. Nebenbei kopierte er die Noten erfolgreicherer zeitgenössischer Komponist:innen und arbeitete als Straßenfeger. 1956 emigrierte er ins norwegische Larvik, erkor dies zu seiner Wahlheimat und nahm Ende der 1960 Jahre sogar die norwegische Staatsbürgerschaft an.

Nach einigen Kammer- und Orchesterwerken wagte sich Bibalo 1958 an seine erste Oper. Ursprünglich wollte er damit an einem Kompositionswettbewerb des Teatro alla Scala in Mailand teilnehmen. Auf den Stoff wurde er durch den Maler Carl Nesjar aufmerksam. Das Libretto für „Das Lächeln am Fuße der Leiter“ nach der gleichnamigen Novelle des amerikanischen Schriftsteller Henry Miller, richtete Bibalo selbst ein. Miller, der dem unbekannten Komponisten seinen Segen gab und sich freute, dass aus seiner kurzen, dialogarmen Novelle eine ganze Oper zu machen sei, beriet ihn bei der Erstellung des Werks, schrieb ihm einen Scheck und brachte ihn bei einem dänischen Musikverlag unter. So gelang das Werk nach Vollendung zwar nicht an die Mailänder Scala, aber in die Hände von Rolf Liebermann, der diese „grundehrliche, nicht auf eine Aufführung hin komponierte Oper“ dennoch für inszenierungswürdig hielt. Und so hob sich am 6. April 1965 an der Hamburgischen Staatsoper der Vorhang für „Das Lächeln am Fuße der Leiter“ – eine Oper in 2 Akten und 5 Bildern.
Hier eine kurze inhaltliche Synopsis: Augusto, ein berühmter Clown, beklagt sich bei seinem Freund Guido darüber, dass sein Publikum nur seine Späße beklatscht, er ihnen aber Glückseligkeit schenken will. Guido warnt seinen Freund vor dessen übergroßen Erwartungen, dennoch kommt es bei der nächsten Vorstellung zu einem Fauxpas: Augusto unterhält das Publikum mit seinen Clownerien und wirbt wie immer um seine Partnerin Anni, die ihn zum Vergnügen der Leute lächerlich macht. Für gewöhnlich sucht er nach diesem Spiel Trost bei einer Leiter, die an einen Papp-Mond gelehnt ist – sein scheinbarer Ausweg in eine bessere Welt und der Höhepunkt seines Programms. An diesem Tag bleibt er aber wie in Trance liegen. Das Publikum reagiert zunächst verunsichert, dann wütend auf diese Störung, greift Augusto an und verlässt schließlich den Zirkus. Der Direktor ist über Augusto verärgert und kündigt ihm. Dieser ist durch die Entlassung schwer getroffen und hat Albträume, in denen er von der Leiter in eine tiefe Leere stürzt. Beim Erwachen erkennt er, dass er sein Zirkusleben so nicht weiterführen kann und begibt sich auf die Suche nach seinem wahren Selbst. In einem Intermezzo springt er in einem anderen Zirkus für den erkrankten Clown Antoine ein, der daraufhin aber an gebrochenem Herzen stirbt. Auf einer Parkbank sitzend reflektiert er in Gedanken sein Leben im Zirkus. Er erkennt sich selbst, nicht mehr in der Rolle des vom Publikum missverstandenen Clowns, sondern in seiner eigenen Person, die den Menschen mitteilt, was das höchste Glück bedeutet. In seinem Glücksrausch hält er einen vorbeikommenden Polizisten für einen Engel und wird von diesem aus Notwehr erschossen. Augusto stirbt auf der Straße mit einem friedlichen Lächeln auf seinem Gesicht.
„Nichts, als eine einfache Novelle, naiv vielleicht, ein wenig gepfeffert unversehens, kurz: eine ganz unschuldige Bagatelle.“

Henry Miller, 1891 in New York geboren, wurde für seine Novelle mit dem Charakter eines Kabinettstücks von zwei zeitgenössischen Künstlern inspiriert: Zum einen schrieb er die Erzählung nach einem Zyklus von Zirkus- und Clownbildern von Fernand Léger, zum anderen schenkte ihm einst der große spanische Künstler Joan Miró die Requisiten der Erzählung: die Leiter und den Mond. Miró illustrierte daher auch später die Novelle – eine kongeniale künstlerische Zusammenarbeit. Für Miller ist die Figur des Clowns „ein handelnder Dichter. Er ist selbst die Geschichte, die er spielt.“ Gleichzeitig ist dieses Werk für ihn ein kleines philosophisches Manifest: „Freude ist wie ein Strom: sie fließt ohne Unterlass. Das ist nach meinem Glauben die Botschaft, die der Clown uns zu überbringen versucht, dass wir teilhaben sollen am unaufhörlichen Fluss, der endlosen Bewegtheit, dass wir nicht anhalten sollen, um nachzudenken, sondern fließen immerfort, ohne Ende wie Musik.“ In der Vertonung Bibalos wurde diese Musik zum Leben erweckt.
„Im Leben reiht sich Zufall an Zufall. Es kann jeden zum Weinen bringen über sein Missgeschick. Zwischen Lachen und Weinen ist kaum ein Unterschied.“
Mich selbst faszinierten verschiedene Aspekte der Oper:
1. Das Paradox des Clowns, der bis zuletzt auf der Suche nach dem wahren Selbst ist.
Der Clown an sich ist kulturgeschichtlich eine extrem ambivalente Figur. Entstanden aus den Dienerfiguren der Commedia dell’arte zeigen heutige Zirkusclowns meist gebündelte Sinnlosigkeiten, mit denen sie das Publikum zum Lachen bringen. Gleichzeitig entwickelte sich im letzten Jahrzehnt nicht zuletzt durch Filme wie „ES“ oder „Der Joker“ der Trend der „Horror-Clowns“. Es gibt sogar einen eigenen Begriff für die krankhafte Angst vor Clowns: Coulrophobie. Das auffälligste Merkmal am Clown ist das stark geschminkte Gesicht, seine Maske. Die meisten Clowns, vor allem im familienfreundlichen Zirkus, tragen ein geschminktes Lächeln, aber auch dieses wirkt verzerrt. Das Bild des traurigen, gar weinenden Clowns ist ein starkes Symbolbild, ist der Clown doch sonst eine Figur, die für Spaß und Freude steht. Negative Gefühle oder das wahre Selbst verstecken sich sonst hinter der lachenden Maske. Augusto will sich dieser „falschen Freude“ entledigen, bezeichnet sein Kostüm gar als „Totenkleider“ und verflucht den Zirkus als verlogene Welt des Scheins. Er enttarnt das Lachen des Publikums nicht als Freude, sondern als Hohn. Für ihn sind Lachen und Weinen eher verwandt als Lachen und Freude. So schrieb bereits 1913 der ungarische Psychoanalytiker und engster Mitarbeiter Sigmund Freuds Sándor Ferenczi: „Lachen ist Erbrechen von Luft aus der Lunge, Weinen ist Saufen von Luft.“ oder, poetischer ausgedrückt von Goethe: „Endlich fasse dir ein Herz / Und begreif’s geschwinder: / Lachen, Weinen, Lust und Schmerz / Sind Geschwisterkinder.“ In diesem Zusammenhang bekommt auch Augustos Tod eine neue Bedeutung: Er stirbt nicht lachend, sondern mit einem glückseligen Lächeln.
2. Für wen machen wir eigentlich Kunst und was, beziehungsweise welche Reaktionen erhoffen wir uns davon?

Guido macht seinem Freund Augusto am Anfang sehr deutlich klar, dass dessen Erwartungen an das Publikum überhöht sind. Augusto hört nicht auf ihn, er nimmt stattdessen die Position des sich selbst überhöhenden Dichters als Schöpfer an. Er will etwas Tiefgründiges kreieren, das die Menschen im Publikum in ihrem Innersten berührt. Er spricht sich aus gegen leichte, seichte Unterhaltung.
Ich musste in diesem Zuge an das „Vorspiel aus dem Theater“ aus Goethes „Faust I“ denken. In diesem Vergleich ist Guido die lustige Person, die Augustos Streben für utopisch hält und das Publikum analysiert zu haben scheint. Mit Goethes Worten: „Noch sind sie gleich bereit, zu weinen und zu lachen, / Sie ehren noch den Schwung, erfreuen sich am Schein.“
Der Zirkusdirektor, dessen Absichten eindeutig werden nach Augustos Fauxpas, spiegelt den Theaterdirektor. Für ihn sind Würde und Tradition sowie der finanzielle Aspekt des Zirkusabends wichtiger als die Gesundheit und das Wohlbefinden seines Mitarbeiters. Ihm geht es einzig um das zufriedengestellte Publikum, das seine Zufriedenheit auch monetär zeigt. So sagt der Direktor bei Goethe: „Denn freilich mag ich gern die Menge sehen, / Wenn sich der Strom nach unsrer Bude drängt / Und mit gewaltig wiederholten Wehen / Sich durch die enge Gnadenpforte zwängt, / Bei hellem Tage, schon vor vieren, / Mit Stößen sich bis an die Kasse ficht / Und, wie in Hungersnot um Brot an Bäckertüren, / Um ein Billett sich fast die Hälse bricht.“ Ähnlich spricht auch Bibalos/Millers Direktor: „Hier ist kein Platz für müß’ge Träumer, für solch‘ erhabene Geister!“
Augusto ist, wie bereits erwähnt, der Dichter. Er geht davon aus, dass die reine Freude, die er selbst empfindet, dann auch auf das Publikum überspringt. Goethe: „Nein, führe mich zur stillen Himmelsenge, / Wo nur dem Dichter reine Freude blüht, / Wo Lieb und Freundschaft unsres Herzens Segen / Mit Götterhand erschaffen und erpflegen.“ Das Publikum versteht Augustos neue Performance nicht, seine Erwartungshaltung wird enttäuscht, woraufhin ein großer Tumult ausbricht. Für den Direktor ist damit der Ruf des Zirkus unwiederbringlich geschädigt, er sieht sich gezwungen, Augusto rauszuschmeißen.
Was passiert, wenn man den Schein als solchen enttarnt? Und welche Konsequenzen hat dies sowohl für die Künstler:innen als auch für das Publikum? Wo ist die Grenze zu ziehen zwischen dem Menschen in seiner Rolle und dem Menschen als fühlendes Individuum? Welche Rolle spielen Tradition und die Würde der:des Einzelnen?
3. Bibalos einzigartige Tonsprache
Die Medien zur Zeit der Uraufführung kritisierten das Werk für seine illustrierende Tonsprache, die sich nicht zu eigenständiger Formkraft verdichtet. Doch genau dort liegt meiner Meinung nach die große Stärke des Werks. Die Musik ist nicht nach Wagner-Manier (leit-)motivisch komponiert, versucht keine stückübergreifenden Verbindungen zu schaffen. Vielmehr konzentriert sie sich auf die mentale Verfassung des Hauptprotagonisten Augusto in den jeweiligen Situationen. Ich hatte häufig das Gefühl, Augustos Gedanken hören zu können. Gleichzeitig ist es eine sehr plastische, lautmalerische Musik, die sogar Atmosphärisches greifbar erscheinen lässt. Beispielsweise ist die Szene, in der das Publikum Augustos Trance nicht einordnen kann und immer angespannter wird geprägt von sich steigernden Tremoli im gesamten Orchester. Teilweise erinnert der klangliche Einsatz insbesondere der Schlaginstrumente an das nach Disneys Zeichentrickfilmen benannte „Mickey-Mousing“, eine Filmmusiktechnik, bei der Geschehnisse im Film punktgenau von Musik begleitet werden. Zum Beispiel gibt es im ersten Akt ein großes Orchesterzwischenspiel, das rein musikalisch eine komplette Zirkusvorstellung darstellt. Die einzelnen Auftritte des Magiers, der Akrobat:innen, des Schlangenbeschwörers und schließlich dem Finale sind klar getrennt durch Trommelwirbel.
Obwohl es keine klaren Motive gibt, hat das Irreale, Träumerische, das sich in verschiedenen Situationen des Stückes finden lässt, seine eigene Klangfarbe: Gehaltene Vibraphon-Töne, viel Vibrato in den Streichern, Flageoletts sowie der Einsatz des Chores in sich wellenförmig bewegenden Sekundtönen.
Auch wenn die Musik an einigen Stellen recht willkürlich klingt, ist sie doch einem klaren kompositorischen Stil untergeordnet. Bibalo, nach Alban Berg geschult und von Béla Bartók beeinflusst, komponierte drei der fünf Bilder dodekaphonisch. Die Dodekaphonie ist ein kompositorisches Verfahren, das in den 1920ern von Arnold Schönberg entwickelt wurde. Die Komposition besteht aus einer variierbaren Reihe aller Töne der chromatischen Skala, bei der aber keine funktionelle oder harmonische Hierarchie gilt. Dodekaphonie gilt bisweilen als trocken oder verkopft, dennoch ist die gesamte Oper sehr gefühlvoll sowie harmonisch und rhythmisch äußerst vielschichtig. Bibalos Komponistenkollege Bruno Maderna bezeichnete sie nicht grundlos als „Zwölfton-Romantik“ oder auch „dodekaphonische Puccini-Musik“. In Bibalos Musik treffen demnach Gegensätze aufeinander. Nicht nur zwischen großem Ausdruck und struktureller Klarheit, sondern auch zwischen ausufernden Streicher-Lyrismen und einem starken Schlagwerk-Apparat. Insgesamt ergibt sich daraus für mich persönlich eine gelungene Mischung.
Diese drei Aspekte der Oper sind sicher nur der Anfang meiner Auseinandersetzung mit dem Werk. Wie viele andere moderne Opern, die nach ihrer Uraufführung wieder in der Versenkung verschwanden, hat auch dieses Werk meiner Meinung nach großes Potenzial und bietet zahlreiche Ansatzpunkte für eine inhaltlich-musikalische Auseinandersetzung sowie für aktuelle und gesellschaftsrelevante Fragen. Im übrigen vertonte Antonio Bibalo bis in die 1990er noch fünf weitere Stoffvorlagen, darunter weltberühmte Stoffe wie Shakespeares „Macbeth“ und Ibsens „Gespenster“.
„Das Lächeln am Fuße der Leiter“ ist eine großartige Oper, noch dazu ein Erstlingswerk, das mehr Aufmerksamkeit verdient. Daher plädiere ich dafür, dass dieses Werk nicht nur in Opernführern, die in alphabetischer Reihenfolge geordnet sind, neben großen Namen wie Bizet auftaucht, sondern auch in den Spielplanheften der heutigen Opernhäuser.
Eine gute Aufnahme des Werkes sowie Noten zur Einsicht habe ich in meiner Recherche leider nicht gefunden, es gibt aber unter folgendem Link einen Tonmitschnitt der Hamburger Uraufführungsproduktion (leider hört man dort sehr präsent den Inspizienten sprechen) inklusive Einblick in die Partitur und Untertitel: https://youtu.be/Q-GPRI7WmSI
Joelle Lieser
Porträt Antonio Bibalo: https://www.wisemusicclassical.com/composer/118/Antonio-Bibalo/
Bilder von Joan Miro aus: Henry Miller, Das Lächeln am Fuße der Leiter, übersetzt von Herbert Zand, Hamburg (Rowohlt Verlag) 1961